Die Agrarwende

Rückenwind durch Lebensmittel-Skandale – Künast gibt den Startschuss für die Agrarwende

Die Jahrtausendwende bringt die Agrarwende. 250 000 Menschen arbeiten in der Bio-Branche, längst wird im Groß- und Einzelhandel und im Bio-Handwerk ausgebildet. Im Jahr 2000 werden 3,2 Prozent aller landwirtschaftlichen Flächen Deutschlands nach Bio-Prinzipien beackert.2001 erschüttert die erste deutsche BSE-Kuh die Verbraucher – viele Weihnachtsbraten sind zum ersten Mal „bio“. Stadtpflanze Renate Künast wird grüne Bundes-Landwirtschaftsministerin und verkündet die Agrarwende. Sie führt das staatliche Biosiegel ein, das rasch auf vielen Bio-Lebensmitteln prangt. Jedes Jahr stellen rund 10.000 Höfe auf Bio um. Plakatwände informieren darüber, dass in Bio mehr drin ist. Immer mehr Menschen meinen: Bio schmeckt einfach besser.BiosiegelUnd wenn in Talkshows ein Loblieb auf Aloe-Vera gesungen wird oder in Bild der Frau auf Kürbiskerne, kommen Verbraucher gezielt in die Bioläden, die immer noch Vorreiter bei gesunden Lebensmitteln sind.Der Boom stellt völlig neue Anforderungen an die alten Verbandsstrukturen. Prompt löst sich der Dachverband des deutschen Bio-Anbaus, die AGÖL, durch den Austritt von Bioland und Demeter auf und findet schließlich im BÖLW (Bund ökologische Lebensmittelwirtschaft) ihre Nachfolgeorganisation, die neben dem Anbau auch Herstellung und Handel einbezieht. Die Zahl der Bio-Supermärkte steigt rasant und wird auf über 200 geschätzt. Sie vertreten die gleiche konsequente Sortimentsphilosophie wie die traditionellen Naturkostläden, sind mit bis zu 1000 qm, Parkplatz vor der Tür, Selbstbedienung und Riesenauswahl aber mehr an den Bedürfnissen neuer Kunden orientiert, die sich keiner Szene anschließen, sondern einfach nur Bio kaufen wollen.2002 eröffnet Renate Künast die Biofach, die internationale Messe für Naturkost und Naturwaren in Nürnberg mit fast 2000 Ausstellern und 30 000 Besuchern. An den Ständen verhandeln längst auch die Einkäufer großer Supermarkt-Ketten.Bei der ersten Biofach-Messe in Ludwigshafen waren 197 Aussteller gezählt worden, 1996 in Frankfurt waren es dann schon 1000. Zwei Jahre vorher waren strenge Kriterien eingeführt worden, damit wirklich nur Bio präsentiert werden konnte.Unverschuldet gerät die Bio-Branche in eine eigene Krise. Der Nitrofen-Futtermittel-Skandal verunsichert die Verbraucher und sorgt für Diskussionen, die an die Gründerzeit anknüpfen. Eine Verschärfung der EU-Bio-Verordnung wird ebenso diskutiert wie die ethischen Grundlagen der Bio-Branche.2003 Die landwirtschaftliche Öko-Fläche übersteigt die 4-Prozent-Hürde. In Berlin bekommen die Kindergarten-Kinder Bio-Mittagessen. Erste ernsthafte Versuche, Bio-Discounter zu etablieren, sorgen für kontroverse Diskussionen in der Bio-Bewegung. Zum ersten Mal übernimmt eine Naturkosmetik-Firma aus der Reformbewegung – Börlind – ein Urgestein der Bio-Bewegung – die Naturkosmetik-Firma Tautropfen. Im Lebensmittelbereich hat es bereits solche Branchen-übergreifenden Zusammenschlüsse und Aufkäufe gegeben. Für das erste Halbjahr meldet der Naturkostgroßhandel Umsatzzuwächse von rund 3 Prozent für den Frischebereich und 1 Prozent für die Trockenware, die Hersteller und Läden sprechen jedoch von 4-5% Umsatzrückgang. Im Vergleich zur konventionellen Lebensmittelwirtschaft hat die Biobranche jedoch weniger unter Kriegsangst und Rezession zu leiden. Rund 75 % aller Deutschen haben schon einmal Bio probiert. Gerade mal 2,7 % des Lebensmittel-Umsatzes wird mit Bio gemacht – aber das sind immerhin drei Milliarden Euro. Was in Wohnzimmern und Landkommunen begann, ist vielfach hochprofessionell und braucht sich in dieser Hinsicht vor dem Standard konventioneller Handelsleistung nicht zu verstecken. Aber mit dem Lernen von den Stärken des normalen Handels und seiner Hersteller sind auch Gefahren in die Struktur eingezogen. Erstmals bestreiken Biobauern ihre Biomolkereien, weil sie nicht mehr genug Milchgeld erhalten, um ihre Existenz mit Bio unterhalten zu können. Bio-Discount und Bio-Eigenmarken eines überstark gewordenen Bio-Großhandels knabbern am Preisniveau und den Spannen und damit an der Existenzfähigkeit von Herstellern und Händlern. Die Branche bleibt sich dennoch treu. Wo konventionelle Unternehmen sich nach der Decke strecken, bläst der größte Bio-Markenhersteller Rapunzel zur Revolution und kündigt trotz hoher Risiken den Großhändlern die Lieferverträge. Damit ist erst mal wieder offen, ob die Bio-Branche wirklich den Weg des konventionellen Handels in Konzentration, Preisverfall und Qualitätsverlust gehen wird oder doch eine andere Lösung findet, Qualität und verbraucherfreundliche Preise zu vereinen. Das Anliegen verfolgt sie jedenfalls seit gut 80 Jahren.RapunzelJoseph Wilhelm von der Rapunzel Naturkost AG im Herbst 2003 zur Entscheidung seines Unternehmens, die Naturkostläden direkt zu beliefern und nicht mehr mit dem Großhandel zusammenzuarbeiten: „Gerade in Zeiten, in denen eine Monopolisierung der Branche droht und in der immer mehr Hersteller-Firmen verkauft werden, ist die Erhaltung der Artenvielfalt für den Fachhandel eine Überlebensgarantie.“2004 „Bio“ ist weiter in. Auch die BioFach 2004 war wieder ein Schrot&KornErfolg, auch wenn sie minimal kleiner war als 2003. Auf der diesjährigen Messe war ein Hauptthema die Gentechnik. Schon in diesem Jahr werden die ersten Gen-Felder in Deutschland erwartet, keine Versuchspflanzungen mehr, sondern der kommerzielle Anbau gentechnisch veränderter Organismen. Schrot&Korn hat dagegen eine große Aktion gestartet. „Genfood? Nein danke“. Auf der Internetseite mit dem gleichen Namen (www.genfoodneindanke.de) gibt es ausführliche Informationen zu diesem Thema, das die Öko-Bewegung sicher in den kommenden Jahren bewegen wird.